Forschung

Wort – Wirkung – Wunder

Das Bild zeigt Amulett aus dem 17. Jh., welches aussieht wie eine fein säuberlich zusammengerollte Schriftrolle.

Schriftrolle aus dem 17. Jh., © Don C. Skemer

Sprache und Macht in der Vormoderne zwischen Religion, Magie und Medizin

Wie können Worte heilen, bannen, schädigen oder gar Wunder bewirken? Ein wissenschaftliches Netzwerk an der Universität Greifswald geht dieser uralten Frage nach. Unter dem Titel „Wort – Wirkung – Wunder: Sprache und Macht in der Vormoderne zwischen Religion, Magie und Medizin“ erforscht eine interdisziplinäre und internationale Gruppe von Forschenden kulturell und historisch vergleichend die Wirkpinzipien wortmagischer Praktiken. Der Blick reicht dabei von altorientalischen Keilschriften über vietnamesische Banner bis zu Pergamentrollen der Frühen Neuzeit – und stellt zugleich Bezüge zu aktuellen Phänomenen her. Denn die Vorstellung, dass Sprache Realität beeinflussen kann, zeigt sich überraschend konstant – über Zeiten und Kulturen hinweg.

Wie aufschlussreich eine interdisziplinäre Herangehensweise ist, illustriert ein bemerkenswerter Fund, der 2023 in Rostock gemacht wurde: Bei Bauarbeiten zur Erweiterung des Rostocker Rathauses entdeckte ein Grabungsteam um den Archäologen Jörg Ansorge ein zusammengerolltes, etwa daumengroßes Bleiplättchen aus dem Mittelalter. Nach dem Entrollen wurden Schriftzeichen sichtbar, fünf Namen, in Form eines Kreuzes angeordnet. Auf der Senkrechten stehen: ‚sathanas‘, ‚belzebuck‘, ‚berith‘ – Namen, die Dämonen oder den Teufel bezeichnen. Quer dazu, rechts und links, die Namen einer Frau und eines Mannes, ‚taleke‘ und ‚hinrick‘ (wobei ‚Taleke‘ eine niederdeutsche Kurzform von ‚Adelheid‘ ist).

Das Bild zeigt eine mittelalterliche Fluchtafel. Es handelt sich um eine graue Steintafel mit eingeritzten Zeichen.
In Rostock gefundene mittelalterliche Fluchtafel, © Archäologie in Mecklenburg-Vorpommern (AIM-V)


Da nur das Objekt selbst überliefert wurde, bleibt seine genaue Funktion unklar. Ein kulturhistorischer Vergleich hilft jedoch weiter. Denn eingerollte bleierne Plättchen mit magischen Inschriften sind in großer Zahl aus der Antike überliefert. Dabei handelt es sich meist um sogenannte Fluchtafeln, die Personen mithilfe von Magie schädigen oder ‚binden‘ sollten. Diese Medien wurden häufig gefaltet, gerollt, durchbohrt oder mit Nägeln versehen – Handlungen, die den angestrebten Schaden verkörperten, der den Opfern des Fluchs zugefügt werden sollte. Die Inschriften enthalten zudem oft Namen von Personen, auf die der Zauber abzielt. Material, Design und Inhalt des Rostocker Bleiplättchens sprechen dafür, dass es demselben Prinzip folgt, jedoch eingebettet in einen christlichen Zusammenhang. Ob die Verbindung zwischen Taleke und Hinrick durch den Zauber gefördert oder gestört werden sollte, ist allerdings unbekannt.

Der Fund zeigt exemplarisch, wie sich magische Vorstellungen und Praktiken kulturübergreifend ähneln können und möglicherweise sogar gemeinsamen Traditionen angehören. Er zeigt auch, dass es zum besseren Verständnis solcher Praktiken historisch-kulturvergleichender Forschung bedarf. Ein solches besseres Verständnis magischen Denkens ist aktueller denn je.

 
Bezüge zu aktuellen Diskursen ableiten

„Gerade in Zeiten multipler Krisen – wie in unserer Gegenwart, in der Frühen Neuzeit oder auch in der Spätantike – interessieren sich Menschen offenbar verstärkt für übernatürliche Dinge und suchen dort Hilfe und Orientierung“, sagt Tina Terrahe, Professorin für Ältere deutsche Sprache und Literatur an der Universität Greifswald und eine der beiden Leiterinnen des Projekts. Deutlich wird das heute an Phänomenen wie Neo-Schamanismus und Neo-Paganismus auf sozialen Netzwerken oder an einem Boom verschiedenster spiritueller Angebote, die auch immer von wortmagischen Vorstellungen durchsetzt sind. Gesellschaftlich kann sich das in einer zunehmenden Wissenschaftsskepsis niederschlagen, indirekt auch im Erfolg von Fake-Facts und Verschwörungstheorien. „Wir verstehen es als eine zentrale Aufgabe“, so Terrahe weiter, „auch Bezüge zu aktuellen Diskursen und Debatten herzustellen, insbesondere im Kontext der Pandemieerfahrung oder Diskussionen um Homöopathie und Naturheilkunde“.

Das an der Universität Greifswald beheimatete Projekt untersucht anhand konkreter Gegenstände, die aus vormodernen Gesellschaften überliefert sind, die kulturellen Paradigmen von Sprache und Schrift im Hinblick auf ihre magische Wirkung. Dabei gilt ein besonderer Fokus den Schnittstellen von Magie mit Religion, Medizin und Magie. Im interdisziplinären Austausch von Expert*innen unterschiedlichster Fächer – die von der Altorientalistik und Ägyptologie, über die Religions- und Kulturwissenschaft mit Schwerpunkt Ostasien, bis hin zu klassischer Philologie, Judaistik und germanistischer Mediävistik reichen – wird auf mehreren internationalen Kolloquien und im Rahmen einer Online-Ausstellung erörtert, wie die magische Wirkung von Worten, Sprache und Schrift den historischen Quellen zufolge entsteht, und welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede sich dabei im transkulturellen Vergleich zeigen.

Anthropologische Konstanten 

Das Netzwerk wird von Tina Terrahe zusammen mit Katja Triplett vom Religionswissenschaftlichen Institut der Universität Leipzig geleitet. Die weite Perspektive des Netzwerks ist auf eine spezifische Fragestellung zugespitzt: Dem Wunsch, übernatürliche Kräfte zu beeinflussen, scheinen anthropologische Konstanten zugrunde zu liegen – etwa die Sorge um die Zukunft, die Angst vor dem Tod, der Wunsch nach Gesundheit und Reichtum sowie die Sehnsucht nach Liebe.

Aber wie genau stellte man sich vor, dass Worte die Realität verändern könnten, gerade auch in Bezug auf diese unterschiedlichen Funktionen? Ein typisches Prinzip magischer Wirkung verdeutlicht ein weiteres Beispiel: Die Annahme, dass das Einrollen oder Einfalten eines Schriftträgers die magische Wirkung verstärke, ist offenbar kulturübergreifend verbreitet. Darauf deuten nicht nur antike und mittelalterliche Fluchtafeln hin, sondern ebenso ein bestimmter Typus frühneuzeitlicher Schriftrollen. Letztere bestehen aus schmalen, langen, einseitig beschriebenen Pergamentstreifen, die sich zu einer kompakten Form zusammenrollen und bequem in der Tasche mitführen lassen.

Das Bild zeigt Amulett aus dem 17. Jh., welches aussieht wie eine fein säuberlich zusammengerollte Schriftrolle.
Das Bild zeigt eine ausgerollte Schriftrolle aus dem 17. Jh.. Auf ihr sind Kreise zu sehen, in die Symbole gezeichnet sind.

Schriftrolle aus dem 17. Jh., © Don C. Skemer

Don C. Skemer – pensionierter Kurator der Handschriftenabteilung der Princeton University, Experte für derartige Rollen und Mitglied des Netzwerks – erläutert, dass diese Artefakte als Amulette dienten: „Verwahrt in kleinen Behältnissen wie Stoffbeuteln, Lederetuis oder Metallkapseln konnten die Schriftrollen direkt am Körper getragen werden, zum Schutz der Person.“ Eine Rolle aus dem 17. Jahrhundert (siehe Bild) vereint eine Vielzahl höchst unterschiedlicher Texte und Bildelemente: Leidenswerkzeuge Christi, pseudo-salomonische Siegel, Figuren mit lateinischen Inschriften sowie hebräische Gottesnamen – teils auch in hebräischer Schrift. Die starke Verdichtung magischer Wörter, Beschwörungen und Symbole auf engstem Raum zielt auf eine Potenzierung ihrer magischen Wirkung ab. Der daran erkennbare sprachliche, schriftliche und religiöse Eklektizismus ist charakteristisch für magisches Schrifttum und verweist zudem auf ein hohes Maß an Bildung. Es handelt sich also keinesfalls um ‚naive‘ und ‚volkstümliche‘ Praktiken. Zugleich unterstreicht die schwer zu entschlüsselnde Zusammenstellung die Notwendigkeit einer kulturübergreifenden und interdisziplinären Herangehensweise für die Erforschung wortmagischer Objekte und ihrer Wirkmechanismen.

Autor*innen: Prof. Dr. Tina Terrahe und Falk Quenstedt

Mit herzlichem Dank an die Mitglieder des Netzwerks Alessia Bauer, Sara Chiarini und Don C. Skemer für Hinweise und Bildmaterialien.

Das Bild zeigt Katja Triplett. Sie hat braune, gewellte Haare und lächelt freundlich in die Kamera.
Dr. Katja Triplett
Auf dem Foto ist eine blonde Frau zu sehen, die zwischen zwei Regalen in einem Archiv steht und ein historisches Buch in den Händen hält. Sie lächelt freundlich in die Kamera.
Prof. Dr. Tina Terrahe, © Wally Pruß
Zu den Projektleiterinnen

Dr. Katja Triplett ist als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Religionswissenschaftlichen Institut der Universität Leipzig tätig.
Prof. Dr. Tina Terrahe ist seit 2022 Inhaberin des Lehrstuhls für ältere Deutsche Literatur und Sprache an der Universität Greifswald. 

Gemeinsam haben sie im Jahr 2022 mit der Planung des wissenschaftlichen Netzwerks „Wort – Wirkung – Wunder. Sprache und Macht in der Vormoderne zwischen Religion, Magie und Medizin“ begonnen. In drei Jahren (2024-2027) werden sie zusammen mit den 20 weiteren ständigen Mitgliedern des Projekts und verschiedenen Expert*innen erforschen, wie vormoderne Kulturen die Macht von Sprache und Schrift als übernatürliche Kraft verstanden und welche kulturellen Vorstellungen diesem Glauben zugrunde lagen.

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